«Widerstehet»

Am 30. August 1942 hielt auf Bitte hin der «Jungen Kirche» Pfarrer Walter Lüthi in Zürich eine bemerkenswerte und auch höchst bedenkenswerte Predigt zu Röm.8,31-39 mit dem Thema «Widerstehet».

Bemerkenswert deshalb, weil damals der Zweite Weltkrieg heftig tobte und der Bundesrat beschlossen hatte, dass flüchtige Juden an den Schweizergrenzen abgewiesen werden sollten u. a. mit der seither zum geflügelten Wort gewordenen Begründung: «Das Boot ist voll». Lüthi nahm kein Blatt vor den Mund und bezeichnete diesen Beschluss für das christliche Gewissen als «belastend». Und zwar in dreifacher Weise: Erstens sei ein solcher Beschluss lieblos, zweitens sei er heuchlerisch und drittens fördere er zutage, wie undankbar wir Schweizer geworden sind.

Bedenkenswert ist diese Predigt, weil seine Beobachtung und Wahrnehmung, wie sich die Kirchen in der Schweiz im Allgemeinen verhielten, auch uns Christen von heute herausfordert. Nachdem Lüthi die Situation der Christen zu Neros Zeiten im Kontrast des Römerbriefs betrachtet, stellt er die Frage in den Raum, weshalb es denn bei uns in der Schweiz keine Christenverfolgung gebe, so wie es damals die Gläubigen in Rom erleben mussten. Zuerst nannte er eine durchaus positive These, die er aber als eher unwahrscheinlich empfand. Daher kam er auf einen zweiten – allerdings negativen – Grund zu sprechen, der ihm zur Beschämung von uns Christen viel zutreffender erschien. Hierzu sein Originalton – das folgende Zitat ist entnommen aus: Walther Lüthi (Anhang: Rudolf Bohren) | «Kriegszeit und Gottes Wort» | Digitale Version herausgegeben von Hans Käser, Arequipa, Peru | Version 2016/1 | Seite 9f):

«Warum ist das so bei uns? Warum gibt es bei uns noch keinen Nero und noch keine Verfolgung? Habt ihr euch das auch schon gefragt? Das kann zwei Gründe haben. … Aber ausserdem ist noch ein zweiter Grund möglich, warum es bei uns noch keine Christenverfolgungen gibt. Und der ist für uns wenig schmeichelhaft. Es gibt nämlich in jedem Volk, auch im unsrigen, wie wir eingangs hörten, ein gewisses Mass von menschlicher Ungerechtigkeit, von ungerechten Verhältnissen und gottwidrigen Zuständen. Und weil das in jedem Volk so ist, darum ist der Christ dazu aufgerufen, solchem Unrecht gegenüber Stellung zu nehmen. Christus nennt das “bekennen vor den Leuten”. Und nun ist hier eine merkwürdige Beobachtung zu verzeichnen: So sehr man sich nämlich als Christ in dieser Welt beliebt machen kann dadurch, dass man etwas tüchtiges leistet, so sehr macht man sich als Christ unbeliebt bis verhasst dadurch, dass man Stellung bezieht und – bekennt. So sehr jede einigermassen gutberatene Regierung den Christ als stillen Bürger schätzt, weil er in Ordnung und Gottesfurcht lebt, so sehr empfindet dieselbe Regierung den Christ als unbequem und unerwünscht, sobald er nicht nur seiner Bürgerpflicht nachkommt, sondern auch seiner Bekenntnispflicht. Ein Täufer kann siebzig- oder hundertjährig werden, solange er dem Herodes wertvollere Soldaten heranzieht. Aber an dem Tage, da der Täufer (Johannes) sagt: “Es ist nicht recht”, hat er’s verschüttet.

Und da wächst uns nun die etwas atembeengende Frage entgegen, ist am Ende bei uns deswegen der Schatten des Nero nicht deutlich sichtbar, weil das Bekenntnis der Christen nicht deutlich hörbar ist? Mit anderen Worten, gibt es am Ende bei uns deswegen immer noch so wenig verhasste, dagegen so viel allgemein beliebte Pfarrer und geschätzte Kirchenpfleger und erwünschte Gemeindeglieder, weil es noch so viele harmlose oder schlaue Pfarrer, so viel vorsichtige Kirchenpfleger und so viele schweigsame Gemeindeglieder gibt da, wo man nicht schweigen dürfte? Ich möchte diese Frage nicht selber beantworten; als Frage, des Nachdenkens wert, möchte ich sie euch mitgeben.»

Es lohnt sich durchaus in unserer Zeit, diese Predigt aufmerksam zu lesen, auch noch mit dem kurzen Anhang, wo Prof. Rudolf Bohren sich in einem Interview u. a. zu dieser Predigt äussert. Hier als PDF verfügbar:

Netzwerk Kirche und Corona